Donnerstag, 31. März 2011

(12) DIE PARADOXIE DER INNEREN ARBEIT

Push hands erfordert von dir einen grundsätzlichen wechsel deiner wahrnehmungslenkung:  Weg vom leibgefühl hin zum situationsgefühl. Du musst also genau die einstellung aufgeben, die für deine innere arbeit so fundamental ist, die fühlende achtsamkeit gegenüber deinen tiefensinnen.  Wenn in den "Klassikern" die rede davon ist, man solle sein "ego" aufgeben und dem anderen folgen, so ist damit keine moralische anforderung gemeint, sondern ein wechsel in deiner einstellung und wahrnehmungsorientierung.
Irgendwie eine paradoxie der inneren arbeit ?!?!  Und womöglich für viele taiji-praktizierende der wahre grund für ihre schwierigkeiten, einen zugang zum push hands-spielen zu finden. 



Aber lass uns doch gleich mit einem experiment beginnen, denn es ist leichter intersubjektiv die bedingungen zu beschreiben, unter denen du bestimmte erfahrungen machen kannst, als etwas zu beschreiben, was schlecht verbalisierbar ist.

EXPERIMENT I: EINEN STOCK BALANCIEREN (FN1)

Beginnen wir mit einem ganz unverfänglichen experiment, das du allein durchführen kannst. Hol dir einen stock, einen besenstiel vielleicht oder ein langes lineal, und balanciere das teil auf den fingerspitzen oder der handfläche. Bemühe dich dabei, die folgenden beiden orientierungen deiner aufmerksamkeit jeweils konsequent durchzuhalten:

  1. Orientiere während des balancierens deine achtsamkeit völlig auf die empfindungen an deinen fußsohlen. Wenn es dir lieber ist, kannst du deine aufmerksamkeit aber auch auf deinen arm oder die bewegungen deiner hand konzentrieren.
  2. In einem zweiten experiment fokussiere dich ausschließlich auf die spitze deines stocks und versuche, diese ruhig im raum zu halten.

Nun vergleiche deine erfahrungen. Was ist passiert?


Zu (1): BINNENORIENTIERUNG LEIBGEFÜHL
Ist es dir unter strikter einhaltung der binnenorientierung überhaupt gelungen, den stock zu balancieren? Oder ist er dir immer wieder heruntergefallen? Hast du dich dabei wohlgefühlt, leicht und wendig in deinen bewegungen? Oder ist es dir auch so gegangen wie mir, dass du die ganze zeit dem fallenden stock hast hinterherstolpern müssen? Und wie war dein atem dabei?

Zu (2): AUSSENORIENTIERUNG SITUATIONSGEFÜHL
Okay und dann: Wie war es beim zweiten versuch? Besser, nicht wahr? Viel besser sogar. Waren in der rückerinnerung deine bewegungen nun nicht auch taijimäßiger? Ruhiger, runder und gelassener? Auch beim atmen? Trotz des scheinbar engen fokus auf die spitze des stocks ein grundgefühl eher der weite als der enge?

Ja, und wo war dabei dein "ego", dein selbst? dein körper? Selbstverständlich waren sie irgendwie am rande deines bewusstseins vorhanden, aber umso besser dein balancieren, desto dominanter dürfte ein zustand spielerischer, quasi kindlicher selbstvergessenheit gewesen sein.

Du warst nur noch balancierend - so wie eine läuferin im zustand des sogenannten "runner's high" nur noch laufen ist oder ein extrembergsteiger nur klettern, eine musikerin nur noch harmonie und rhythmus ist und ein meditierer nur sitzen. Der amerikanische psychologe mit dem leicht zu merkenden namen - Mihaly Csikscentmihalyi -, der diesen zustand "wenn es flutscht" genauer untersucht hat, verwendet dafür den begriff "FLOW":
"Wenn man alle vorhandene psychische Energie in eine Interaktion steckt - ob mit einem anderen Menschen, einem Schiff, einem Berg oder einem Musikstück - wird man ... zum Teil eines Systems. Dieses System erhält seine Form durch die Regeln der [jeweiligen] Aktivität; seine Energie entsteht aus der Aufmerksamkeit des Menschen". Paradoxerweise weitet der mensch sein SELBST als teil eines solchen interaktions-systems "über seine grenzen aus und wird komplexer als zuvor", während er gleichzeitig das SELBSTGEFÜHL vorübergehend verliert. (FN2)
Ausgehend von der atemmassage hat der deutsche arzt und atemtherapeut Volkmar Glaser diesen zustand  im medium der kontaktenden zuwendung psychophysiologisch erforscht:
"Wenn man nun im rechten Handeln sein Augenmerk nicht auf sich selbst richtet oder sich gar vergisst, so heißt das keinesfalls, dass man dabei kein Bild von seinem eigenen Zustand hat. Das ‚Wissen’ um seine eigene Befindlichkeit bezieht der Mensch nicht aus der Reflexion. Es bildet sich aus einer ganz besonderen Art der Eigenerfahrung, wenn man sich zwar nicht beachtet, aber sich dennoch seines Seins in erhöhtem Maße inne ist. Empfindungen, die in kontaktenden Verhaltensweisen aufsteigen, gehören in den Bereich der koinästhetischen Gefühle. Sie signalisieren [als intuitives "bauchgefühl"] das allgemeine Befinden in angenehmer oder unangenehmer Weise. Dabei sind sie uns nur marginal bewusst, d.h. sie machen uns unseren augenblicklichen Lebenszustand in ähnlicher Weise deutlich, wie z.B. Randbemerkungen (Marginalien) den wesentlichen Inhalt einer Buchseite hervorheben“ (Glaser, Eutonie, 23 f, hervorh. von mir, os).
Du wirst nun - hoffentlich - einwenden, wie man dann, wenn man sein selbstgefühl verliert oder den fokus darauf bewusst aufgibt, über so einen zustand überhaupt aussagen machen kann? Das stichwort heißt ERINNERUNG. In der erinnerung, im nachhinein, kriegst du dinge zusammen, die in der konkreten interaktionssituation getrennt sind - z.B. die zuvor ausgeblendete binnenorientierung an deinem leibgefühl  und die außenorientierung deiner kontaktenden zuwendung zum anderen, also an deinem situationsgefühl. (FN3)

Beschreibungen im nachhinein (FN4) solltest du aber nicht mit dem verwechseln, was in der konkreten situation tatsächlich passiert. Wenn du diese unterschiedlichen wahrnehmungsorientierungen 
  • auf das leibgefühl und 
  • auf das situationsgefühl 
nicht genau auseinanderhältst, wird dir die paradoxie der inneren arbeit in der konkreten push hands-situation zur "lebendfalle", aus der du kaum mehr rauskommst:

So wie du im ersten teil des obigen experiments wahrscheinlich immer dem fallenden stock hinterhergestolpert bist, wirst du beim pushen den ereignissen hinterherstolpern, hektisch und schon deswegen hart werden - immer etwas aus dem takt und neben der spur. Indem du in dich hineinhörst, wendest du dich ab, wirst du taub für das horchen in den leib deines interaktionspartners und für die dynamik der situation. Ein regelrechter circulus vitiosus entsteht: Du scheiterst, denkst, es liegt an deinem sinken und deinem alignment - willst nachbessern --- und entfernst dich nur noch weiter vom hier und jetzt der INTER-AKTION.

Wohlgemerkt (!) - auch die beschreibungen der taiji-klassiker sind ex-post-beschreibungen. Selbstverständlich finden sich dort einige hinweise eingestreut --- wie das bereits erwähnte "Gib auf dein selbst und folge dem anderen" oder: Dass die konzentration auf dein qi zu stockungen führe. Allerdings geschieht das nie in der nötigen unterscheidungsklarheit. Behaupte ich mal keck --- erkenntniskritisch.

Okay, in der praxis steht dir natürlich immer auch noch die möglichkeit des schnellen wechselns zwischen den beiden orientierungen zur verfügung. Allerdings bedeutet das jedesmal einen bruch, ein zeitweises inneres aussteigen aus der konkreten interaktiven situation, die rundherum deine ganze präsenz erfordert.

Und ein guter pusher merkt nicht nur, sondern provoziert das sogar, dass du dich mit dir selbst beschäftigst, statt mit ihm und dem was tatsächlich passiert :-).
Das erzählt dir keiner, der das alles souverän beherrscht, sondern der ein demütiges würmchen im studium des DAO ist, und der diesbezüglich oft genug "lehrgeld" hat zahlen müssen. Ja, hat zahlen dürfen - auch wenn ich glaube, dass Zheng Manqings berühmtes "Ins Verlieren investieren" das eigentliche problem mehr verdeckt als klärt. Vor allem musst du aus dem thema jede moralische konnotation rausnehmen. Es ist zuallererst eine frage der wahrnehmungsorientierung und aufmerksamkeitslenkung.

Im training lässt sich aus dem erwähnten schnellen orientierungswechsel auch ein LERNINSTRUMENT  machen, wenn du zB bei verteilten und aufgabenspezifisch genau definierten rollen  mit deinen übungspartnern übst und experimentierst - und ihr euch wechselseitig detaillierte rückmeldung gebt (FN5). Hierbei könnt ihr auch die orientierungs-synthese der erinnerung nutzen: Ihr könnt euch  nachträglich - ohne direkt zu handeln - gefühlsmäßig in die gerade erlebte situation zurückversetzen und im bewussten nachempfinden das zusammensetzen, was in-der-aktion getrennt ist.
In Glasers Psychotonik wird dieses "Nacherleben zum Aufrufen des Körpergefühls" POSTSTIMULATION genannt .
Darüberhinaus wird sich aus einer lernpraxis, in der sich aktion mit feedback- bzw poststimulations-phasen abwechselt, fast von selber sowas wie die fähigkeit zur PRÄSTIMULATION ergeben: "Vorausempfinden zum Aufrufen des Situationsgefühls" aufgrund der gemachten erfahrungen (Grossmann-Schnyder).
Was indes nichts daran ändert, dass anschließend in-der-aktion der reellen interaktiven situation - mit ausnahme einer grundhaltung kontaktender zuwendung - für spezielle erwartungen oder gar vorplanungen bewusstseinsmäßig kein platz mehr sein sollte.

)*(

Aber wir wollen den wirklichen erfahrungen nicht zu weit vorausgreifen....!!!  Lass uns darum einen kleinen schritt zurück gehen und zum abschluss noch ein zweites experiment machen. Diesmal brauchst du einen übungspartner dazu (bitte lies die weibliche form immer mit), der dir rückmeldung über die qualität deiner berührung geben kann.




EXPERIMENT II:  BERÜHRUNG (FN6)

(A) Dein übungspartner präsentiert beide arme etwa in der position "Spiele die Pipa" oder "Fasse den Vogel - Abwehren nach rechts". Seine arme haben eine zeigende und horchende qualität, d.h. sie sind weder hart, noch nudelweich. Sein fokus dreht sich um folgende fragen:
  • Wie werde ich berührt, was fühle ich dabei und wie fühle ich mich angesprochen, wie reagiere ich, bemerke ich meinen übungspartner als person oder nur seine hände? (Moia Grossmann-Schnyder)
(B) Spiele nun die beiden obigen einstellungen deiner aufmerksamkeitslenkung durch. Bemühe dich aus systematischen gründen, die beiden orientierungen strikt auseinanderzuhalten. Berühre deinen übungspartner jeweils zwischen ellbogen und handgelenk.
  1. Berühren mit binnenorientierung am eigenen leibgefühl: Lenke deine aufmerksamkeit völlig auf deine propriozeption. Fühle deine eigenen hände, handgelenke, ellbogen, schultern, lendenwirbel-kreuzbeinbereich, hüftgelenke, knie, fußsohlen – ob alle diese bereiche korrekt ausgerichtet sind, untersuche alle punkte und verbindungen, die du sonst bei deinem zhanzhuang-stehen von baihui bis yongquan so durchcheckst.

  2. Berühren mit außenorientierung am situationsgefühl kontaktender zuwendung: Nun wende dich mit deiner ganzen aufmerksamkeit deinem übungspartner zu. Du hast im augenblick hierbei keine spezielle intention. Deine aufmerksamkeit ist durch freundliche offenheit und wohlwollendes interesse gekennzeichnet (FN7).
Danach - in der phase der "poststimulation" - gibt dir dein übungspartner rückmeldung anhand der oben zitierten leitfragen. Dann könnt ihr die rollen wechseln.


Zur psycho-physiologie der kontaktenden zuwendung demnächst mehr. 

Eine praktische einführung in diese arbeit kannst du bei den "Dossenheimer Taiji-Treffs" finden, die jeweils am letzten samstag im monat stattfinden.
Und viele neue anregungen dürfen wir uns von Wilhelm Mertens nächstem push-hands-workshop in Mannheim am 21.-22. Mai 2011 erwarten.


(c) os/31-3-11






FUSSNOTEN


(1) Das experiment ist inspiriert durch: Volkmar Glaser, Eutonie. Das Verhaltensmuster des menschlichen Wohlbefindens. Lehr- und Übungsbuch für Psychotonik, 214 ff.
(2) Mihaly Csikszentmihalyi, FLOW. Das Geheimnis des Glücks, S. 94 (hervorh. von mir, os)
(3) Grundsätzlich: "Sprache ist Erinnerung" (Fritz Mauthner) - und wenn du z.B. sagst: "Ich bin glücklich", bist du es schon nicht mehr. "Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, sondern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter. Darum aber kann kein Glücklicher je wissen, daß er es ist. Um das Glück zu sehen, müßte er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener. Wer sagt, er sei glücklich, lügt, indem er es beschwört, und sündigt so an dem Glück. Treue hält ihm bloß, der spricht: ich war glücklich. Das einzige Verhältnis des Bewußtseins zum Glück ist der Dank: das macht dessen unvergleichliche Würde aus." (Adorno, Minima Moralia)
(4) Das gilt selbstverständlich auch für meinen versuch in POST 9 http://taijifortwo.blogspot.com/2010/07/9-kontakt-pang.html, obwohl ich der bredouille mit zeichnen zu entgehen versucht habe.
(5) Vgl. CHRIS VOGEL "THE ART OF USING ENERGY – AS TAUGHT THROUGH PUSH HANDS"  http://www.applied-tai-chi.com/  und die ausführungen hier auf taijifortwo dazu in früheren beiträgen POST 1, 2 , sowie insbesondere POST 3 http://taijifortwo.blogspot.com/2010/06/3-eine-experimentelle-ubungsroutine.html
(6) Das experiment ist angelehnt an: Moia Grossmann-Schnyder, Berühren. Praktischer Leitfaden zur Psychotonik in Pflege und Therapie
(7) Auch das solltest du in einem nicht-moralischen sinn verstehen. Kein taijiler muss seine gegner lieben, aber darüber demnächst mehr.




PS: Übrigends sehr empfehlenswert:
http://www.innere-kraft-64.de/