Donnerstag, 1. Juli 2010

(6) ÜBER GÜNSTIGE UND UNGÜNSTIGE ABWEICHUNG VOM IDEAL

Die wichtigste lehre aus der im letzten BLOGbeitrag beschriebenen experimentellen routine des struktur-testens: Endlich habe ich kapiert, dass das in taiji- und qigong-kreisen so populäre beckenkippen, unterziehen des beckens oder "einziehen des weilü" ("Schwanztor"-punkt am steißbein) alles andere als effektiv ist. Regelrecht kontraproduktiv sogar, das "tuck under".

Das steißbein ist bekanntlich das, was die evolution vom schwanz unserer prähominiden vorfahren übriggelassen hat. Mal ehrlich - kannst du dir wirklich vorstellen, dass man mit eingezogenem schwanz sollte kämpfen können?

Indes ist nicht zu leugnen, dass es bei vielen taiji-autoritäten heißt: "Der Wei-lü-Punkt am Kreuzbein soll ein klein wenig nach innen gezogen werden, so dass wir vollkommen aufrecht sind" (Zheng Manqing, Ausgewählte Schriften zu T'ai Chi Ch'uan). Auch Chris Vogel konnte offenbar auf diese zweifelhafte "hilfe" zur körperausrichtung nicht ganz verzichten (vgl. das im zweiten BLOGbeitrag veröffentlichte 2. kapitel von THE ART OF USING ENERGY).

Okay, bevor wir besagtes "schwanz einziehen" im "lexikon der populärsten taiji-irrtümer" entsorgen, wäre zu fragen, wie das "nach innen ziehen" des weilü denn eigentlich bewerkstelligt werden soll:
Wenn es eine subtile von bauch- und gesäßmuskulatur isolierte aktion deines beckenbodens sein sollte, und du das hinkriegst, dann mag es ja noch vielleicht angehen. Bin mir da (noch) nicht sicher.

Letztlich entscheidet aber der praxistest (siehe den letzten post über struktur-testen, sowie POST 9/Anhang: http://taijifortwo.blogspot.com/2010/07/9-kontakt-pang.html).

Solltest du aber versuchen, gegen verkürzte hüftbeuger (iliopsoas), die für die hyperlordosierung eines hohlkreuzes verantwortlich sind, mit kontraktion der unteren bauchmuskeln und der tiefen gesäßmuskulatur anzugehen, dann gewinnst du weniger als nichts. Wenn du spannung mit gegenspannung beantwortest, kommt jedenfalls keine entspannung raus, oder? Es wird dir nicht gelingen, deinen bauch zu finden, auf den du deinen brustkasten mitsamt schultergürtel absetzen könntest. Du machst darüberhinaus deine hüftgelenke (kua) zu und verengst oder blockierst so die passagierstelle, durch welche die energie zum boden sinkt oder von dort aufsteigt.

Durch formale gebote oder verbote lässt sich eben nicht bewerkstelligen, was nur ergebnis langfristiger lösungs- und umstrukturierungsprozesse im leibgefüge sein kann.

Solange du vom ideal abweichst - hier der vertikalen ausrichtung der wirbelsäule in der schwerkraft - und das soll ja durch die beckenkippung eigentlich erwirkt werden - , stellt sich die frage: Gibt es hier nur ein schwarz oder weiß? Oder gibt es vielleicht auch günstigere oder weniger günstige abweichungen vom ideal?

Hans Flury kommt das verdienst zu, genau diese kreative fragestellung zum ausgang seiner bewegungslehre genommen zu haben (vgl. H. Flury, Die neue Leichtigkeit des Körpers).

Eine günstigere abweichung zeichnet sich dadurch aus, dass sie womöglich wesentliche eigenschaften und fähigkeiten des idealzustands vorwegnimmt, ohne den weiteren weg zum ideal zu behindern oder gar von ihm wegzuführen.

Um das gemeinte konkret zu machen, wirf einen blick auf die beiden strichmännchen in unten stehender skizze:


Beide figuren weichen in gestalt einer zickzacklinie von der körpersenkrechten ab. Ich hege keinen zweifel, du wirst die linke figur hinsichtlich energetischer ausstrahlung und aktionsbereitschaft spontan als die günstige abweichung identifizieren. Sie lehnt etwas nach vorne und hat gleichzeitig das becken hinter der körpersenkrechten. Die zweite figur hat dagegen sozusagen "keinen arsch in der hose", das becken vor der mittellinie und den oberkörper nach hinten geneigt. Auf eine solche "bananenhaltung" jungendlicher laschis war und ist übrigens das berühmt-berüchtigte westliche "Bauch rein! Brust raus!" gemünzt (vgl. Flury, a.a.O.)


Ja, und so sieht es häufig aus, wenn die fernöstliche alternative mit dem einziehen des "schwanztors" (weilü)  schief gegangen ist. Besagte karikatur eines taijilers ist durch sein verkürzendes beckenkippen in rücklage geraten, was wiederum durch ein weit nach vorne in die knie gehen ausgeglichen wird. Sieht nicht besonders dynamisch und aktionsbereit aus - oder?


Hast du doch sicher schon gesehen sowas?! Hier zuerst das "modell" obiger karikatur, ein x-beliebiger snap-shot aus youtube, nur unkenntlich gemacht. Bemerkenswert, dass die rückwärtige t-shirt-linie fast vertikal zu sein scheint:



Und zum abschluss noch zwei weitere - verfremdete, wenn auch klassische - fotos:

 

 

--
ANMERKUNG:
Zur kritik der beckenkippung habe ich noch folgenden interessanten beitrag gefunden:
http://internalgongfu.blogspot.com/2010/03/lower-back-arch-drop-and-tuck.html


(c) otmar sauer 30. juni 2010


PS: Übrigends sehr empfehlenswert:
http://www.innere-kraft-64.de/